| 7. Juli 2008
Im Sägewerk Mariensee: Großes Theater mit „Die Irre von Chaillot“

Im Marienseer Sägewerk bei Aspang am Wechsel wurden über 100 Jahre Baumstämme zu Schnittholz verarbeitet – Bretter, die auch die (Theater)Welt bedeuten. Für originelle Theateraufführungen unter der Regisseurin Péetra Jendrzejek ist Mariensee seit Jahren bekannt: von Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“, Felix Mitterers „Kein Platz für Idioten“, über Bert Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ – die wohl beste Interpretation des Stücks seit langem in Österreich – bis zu Jean- Paul Sartres „Die Fliegen“. Heuer wählte die Regisseurin Jean Giraudoux’ Stück „Die Irre von Chaillot“. Anfang 1944 war Giraudoux an einer Lebensmittelvergiftung gestorben. „La Folle de Chaillot“, eine witzig-bissige Satire auf das Treiben von Spekulanten und Geschäftemachern im besetzten Paris, kam erst posthum 1945 auf die Bühne. Wie Péetra Jendrzejek erklärt, „verbünden sich in dieser poetischen Fiktion die ohnmächtigen Außenseiter, Armen und Irren der Stadt mit Hilfe einer Verrückten und stoppen gemeinsam die profitgierigen Geschäftemacher. So bleibt weiterhin die Chance bestehen, dass die Verrückten und Außenseiter, die aus dem System herausgefallen sind, etwas zur Gestaltung der Welt – beginnend mit ihrer kleinen, eigenen – beitragen!“ Die Aufführung wurde wieder mit Berufsschauspielern, Laien und Menschen mit Behinderungen, die im „Karl Schubert Haus“ betreut werden, erarbeitet. Das „Karl Schubert Haus Mariensee, Gesellschaft für Sozialtherapie und Lebensgestaltung“ möchte sozial stabilisierende Elemente einer Familie mit den Errungenschaften der modernen Arbeitswelt vereinen. Gruppen von zirka sechs Klientinnen und Klienten werden von einem Team aus vier Betreuern abwechselnd betreut. Somit haben sie den ganzen Tag denselben Ansprechpartner beziehungsweise Coach, der sie von der Morgentoilette an mit den unterschiedlichsten Aufgabenstellungen bis zur Schlafenszeit begleitet. Um Erstarrung zu vermeiden und Erfahrungen auszutauschen, können sowohl Klientinnen und Klienten als auch der Mitarbeiterstab die Gruppen wechseln. Bei den höchst anspruchsvollen Theateraufführungen der letzten Jahre hat sich gezeigt, dass viele Klientinnen beziehungsweise Klienten ihre Rollen derart berührend darstellen können, dass sie einen Vergleich mit den professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern nicht scheuen müssen. Für das Selbstwertgefühl und die persönliche Weiterentwicklung ist die Bewältigung dieser freudvollen und schwierigen Theateraufgabe von unschätzbarem Wert. Das Ergebnis in Mariensee: überwältigendes Theater in einzigartigem Ambiente, sensationell. ■